„Krieg und Frieden“ war das erste Buch, das ich im Rahmen des „Hardcore Literature Bookclub“ gelesen habe.
Ich begann mit einem etwas mulmigen Gefühl. Ich erwartete ein sperriges Werk, etwas, zu dem ich mich zwingen musste. Doch es kam alles ganz anders…
Der Plot
Den Inhalt möchte ich an dieser Stelle nicht in aller Ausführlichkeit wiedergeben. Ihr findet ihn auf unzähligen Seiten im Internet, z.B. auf Wikipedia.
Meine Zusammenfassung wäre: Russische High Society wird wie ein Hummer ins Wasser geworfen und nach und nach lebendig gekocht – wobei das Wasser hier der beginnende Krieg ist. Manche überleben es, manche nicht, manche kommen gut aus der Sache raus, manche nicht.
Ein Happy End gibt es natürlich auch.
Die Figuren
Auf 1500 Seiten kann man sehr viele Figuren unterbringen, sehr, sehr viele. Ich beschränke mich auf die, die für mich am interessantesten waren. Und ich gebe euch den Eindruck nur stark verkürzt wieder, zumal ich die Lektüre gedanklich immer noch verarbeite.
Pierre: Erinnerte mich immer wieder an Dorie aus „Findet Nemo“ – stolpert so durchs Leben und lässt sich dabei immer wieder von neuen Dingen beeindrucken. Er wurde im Ausland unterrichtet, aber es ist nicht ganz klar, warum genau und was er dort gelernt hat, jedenfalls erschien er mir nicht unbedingt weltgewandt. Zwar reflektiert er viel, aber kommt selten zu einem vernünftigen Ergebnis. Tragisch fand ich seine Kriegserfahrung, die allerdings etwas selbstverschuldet war, da er einfach ins Geschehen hineinrannte.
Andrej: Wollte sich aus gesellschaftlichen Zwängen lösen, um etwas zu bewegen, um ein Held zu werden. Er ist ein Mensch mit viel Mitgefühl der Truppe gegenüber, aber nicht gegenüber der Frau, der er die Ehe versprochen hat. Zum Heldentum hat er ein paar Chancen und er verhält sich in den Situationen auch sehr gut, aber der Weg nach oben im krieg ist nicht für jeden einfach.
Natascha: Erinnerte mich anfangs etwas an Lolita – das junge, fröhliche Ding, das jeder Mann begehrt. Sie ist ziemlich selbstverliebt und lässt sich vom ersten Widerstand sofort aus der Bahn werfen. Leider entwickelt sie sich dann zur aufopfernden Heilerin und findet ihr Glück in der Ehe und Mutterschaft. Für mich ist das kein besonders schlüssiges Bild, aber ich denke, dies war damals die Idealvorstellung einer Frau: Zuerst sexy und unwiderstehlich, dann treu und sorgend…
Marja (und ihr Vater Nikolai): Eine absolut toxische Vater-Tochter-Beziehung! Der Vater ist Narzisst, der seine Tochter eher wie ein Haustier behandelt und unbedingt die Bestätigung durch sie braucht. Ihr bleibt dabei kaum eine andere Wahl, als sich in die Religion zu flüchten, bleibt aber tatsächlich immer ihren Werten treu.
Die Reue, die der Vater später auf dem Totenbett empfindet, war für mich nicht nachvollziehbar.
Helene und Anatol: Für mich sind das die Figuren, die ich noch am meisten mochte in der Geschichte, auch wenn sie wenig Raum bekommen. Sie sind die „bad guys“, die, die sich nicht um gesellschaftliche Konventionen scheren und ihr Leben so lang voll auskosten, wie es ihnen möglich ist.
Die Leseerfahrung im Bookclub
Für mich ist es die erste Erfahrung, die ich mit diesem Buchclub gemacht habe. Ich habe nur durch Zufall Ende letzten Jahres davon erfahren und es bot sich an, ihn in meine Lesejahresziele einzubinden.
Die einzelnen Videos zum Buch lagen immer etwa eine Woche auseinander, erschienen aber nie am gleichen Wochentag, was es anfangs für mich etwas schwierig machte, den richtigen Einstieg zu finden. Aber das spielte für mich nach einiger Zeit keine Rolle mehr.
In den Videos erzählt Ben, der „Macher“ des Clubs, nicht nur viel zum historischen Kontext, sondern geht auch auf die Geschichte des Autors ein, welche Parallelen sein eigens Leben zu dem seiner Figuren hat und er beleuchtet sehr detailliert die großen Themen des Werkes.
Zu jedem Beitrag gab es Verweise auf weiterführende Literatur, auf Webseiten oder frei zugängliche Dokumentationen, die alle dazu dienten, das Leseerlebnis zu vertiefen.
Sehr wertvoll fand ich persönlich die vielen und diversen Kommentare der Teilnehmenden aus aller Welt unterhalb der einzelnen Videopostings. Hier gab es immer tolle Einsichten und Gedankenanregungen.
Ich persönlich habe mich aus Zeitgründen wenig an der Diskussion beteiligt, aber ich habe jeden einzelnen gelesen und schaue auch jetzt ab und an wieder in die zurückliegenden Gespräche hinein. Ohne diesen Austausch wäre der Buchclub nur halb so gut!
Meine (fragmentierte) Meinung
„Krieg und Frieden“ ist eine eine überraschend gut lesbare russische Soap – oder könnte es sein. Ziemlich störend fand ich die die „Kommentare aus dem Off“ von Tolstoi zum Krieg und die Belehrungen zum Leben als solches.
Manchmal dachte ich etwas frevelhaft, wenn es ihm nur darum ging, seine Sicht der Dinge zu zeigen, dann hätte es auch ein Essay getan….
Allerdings ist es durchaus lohnenswert, das Buch dennoch zu lesen. Der Autor hat einen guten Einblick in die menschliche Seele und zeigt anhand von Archetypen, wie ein Lebensmodell aussehen kann und was passiert, wenn historische Ereignisse damit kollidieren.
Auf der Suche nach Helden traf ich jedoch nur auf Antihelden. Es gibt keine einzige Figur für mich, die einen tieferen Eindruck hinterlassen hat. Zusammen ergeben alle Charaktere ein wirklich interessantes Bild, aber einzeln sind sie nur „normale“, wenn auch sehr privilegierte Menschen, die Tolstoi vor dem Hintergrund des Krieges als Marionetten seiner Weltsicht herausgefischt hat.
Auch ist die Entwicklung dieser Personen für mich nicht immer nachvollziehbar. Einige verhalten sich plötzlich entgegen ihres Wesens und es wird nicht klar, was sie dazu bewogen hat.
Das – für mich schreckliche – Frauenbild ist wohl der Zeit des Autors geschuldet. Identifizieren konnte ich mich mit keiner von ihnen (allerdings auch nicht mit den Männern).
Ihr seht, ich kann meinen Eindruck nur gestückelt in (schlechte) Worte fassen. Es ist ein großes Werk, wir haben es sehr intensiv aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet und es gibt viel, was mir dazu durch den Kopf geht. Vermutlich werde ich es irgendwann ein weiteres Mal lesen, um es klarer sehen zu können.
Aber erst einmal geht es im Buchclub nun weiter mit „Die Brüder Karamasow“ von Fjodor M. Dostojewski.